100. Geburtstag von Heinrich Böll
Kunst muss [zu weit gehen]
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: Paul Leclaire
Wilder Free Jazz, dissonante zeitgenössische Musik und rhythmischer Sprechgesang vom Ensemble Musikfabrik bilden den Rahmen für ein dokupoetisches Instrumentaltheater.
Helmut Oehring und seine Librettistin und Dramaturgin Stefanie Wördemann haben in Zusammenarbeit mit dem Ensemble Musikfabrik eine Collage aus Texten, Instrumentalmusik, Gesang und Performance zum 100. Geburtstag des Kölner Schriftstellers und Nobelpreisträgers Heinrich Böll geschaffen: “Kunst muss [zu weit gehen] oder Der Engel schwieg“. Eine Auftragsarbeit für die Oper Köln. Im Mittelpunkt stehen Auszüge aus Bölls Rede über die Freiheit der Kunst 1966, die er zur Eröffnung des Wuppertaler Schauspielhauses hielt und Auszüge aus Briefen, die er als junger Soldat an seine Frau Annemarie schrieb.
Bölls Rede in Wuppertal war eine Ohrfeige für die versammelten Honoratioren aus Wirtschaft und Politik, die auch lautstark protestierten.
Aber Oehring porträtiert nicht den bekannten Schriftsteller und Moralisten, auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit, sondern einen jungen unbekannten Mann, der sich voller Wut über die Menschen und ihre Dummheit, die zu Krieg, Zerstörung und Blutvergießen führt, empört. Ein junger Böll, der mit Verzweiflung und Hoffnung auf die grausame Welt schaut, Katholik und Anarchist in einem. Ein junger Mann, der mit dem Leben hadert und dabei tiefgläubig ist und der sich in all dem Schmutz nach Musik sehnt. Er war zutiefst beglückt als er im Radio Beethoven hörte. „Keine Kunst ist so sehr wie die Musik eine zugleich leise und glückliche und doch so wilde traurige Erinnerung an das Paradies…“ (Brief an Annemarie Cech, 5. Nov. 1940). Das Publikum bekommt eine Ahnung, welche inneren Auseinandersetzungen Böll durchlebt hat, bevor er zu der kritischen Instanz im Nachkriegs Deutschland wurde, die er in seinen späteren Jahren war. Auf diesem Hintergrund wächst der Respekt vor diesem Mann, der sich immer wieder in das öffentliche Leben eingemischt hat.
Helmut Oehrings Instrumentaltheater ist nur mit den 16 herausragenden Musiker*innen des Ensembles Musikfabrik vorstellbar. Ein Solisten Ensemble, das nicht nur in der Lage ist die komplexe Musik und die Rezitationen zu bewältigen, sondern gleichzeitig auch noch Performance Rollen zu spielen. Dazu kommt noch, dass Helmut Oehring immer wieder Gebärdensprache einsetzt, die von den Instrumentalisten ebenfalls ausgeführt wird. Oehring ein Kind gehörloser Eltern, ist mit der Gebärdensprache aufgewachsen.
Der Wechsel von Tutti zu Solo, Duett oder Quartett ist fast immer mit einer Performance verbunden. So treten die vier Streicher aus dem Ensemble heraus um dann auf den Rücken liegend Beethoven zu interpretieren, passend zum entsprechenden Böllgedicht. Der amerikanische Posaunist Bruce Collins sitzt im Lotussitz mit nacktem Oberkörper auf einem Tisch und erzählt von seiner Kindheit in Minnesota.
Diese Kleinbesetzungen bilden einen filigranen Gegensatz zu den teilweise wilden Ensembleklängen. Wenn die Tutti die Wut und das Aufbegehren ausdrücken, dann sind in den kleinen Besetzungen Bölls tiefe Liebe zu seiner Frau und die Sehnsucht nach Geborgenheit zu spüren. Wenn Christine Chapman und Marco Blaauw eng miteinander verschlungen sich liebevoll berühren und dabei Trompete spielen oder wenn Hannah Weirich auf dem Boden liegend Bachs Chaconne auf der Geige anklingen lässt, begleitet von Ulrich Löffler auf der Melodica, dann entstehen Momente von großer Innigkeit. Aber auch deftigere Soli sind in das Stück eingeflochten. Axel Porath führt einen wahren Derwisch Tanz mit seiner Bratsche auf und Melvyn Poore spielt seine Tuba und erzählt, wie es ihm als junger Musiker bei der BBC in London erging. Dirk Wietheger spielt und singt, sein Cello vor sich hertragend, einen Brecht Song aus der Dreigroschenoper. Diese Aufzählung lässt sich noch erweitern. Welches andere Ensemble ist zu alledem in der Lage?
Helmut Oehring und Stefanie Wördemann arbeiten aber nicht nur mit dem Gegensatz von Tutti und Kleinbesetzung, sondern auch mit dem Gegensatz von Texten die sich zwischen Niedergeschlagenheit und Empörung bewegen und der unschuldigen Unbefangenheit von Kindern auf der Bühne.
Denn es spielen nicht nur die Musiker*innen des Ensemble Musikfabrik mit, sondern auch deren Kinder und die Kinder des Komponisten und Regisseurs.
Gleich zu Beginn, noch bevor die Instrumentalisten und die Sängerinnen den Bühnenraum betreten, wuseln acht Kinder zwischen 6 und 12 Jahren auf die Bühne herum, bemalen den Boden mit Kreide, lachen, reden, laufen hin und her und verbreiten eine Kindergeburtstagsstimmung.
Herausragend ist die Leistung der zwölfjährigen Tochter des Regisseurs, Mia Oehring, die eine Hauptrolle spielt. Sie liest und spricht viele der Böll Briefe, sie tanzt und greift kurz vor Ende des Stücks zur Gitarre und singt Leonard Cohens Song Hallelujah.
Auch von Heinrich Bölls Sohn Renè werden Texte zugespielt und er spricht auch live, ebenso wie seine Enkelin Samay.
Heinrich Böll, der Kinder liebte und eine sehr innige Beziehung zu seiner Enkelin Samay hatte, hätte sich sicher darüber gefreut, dass Kinder in das Stück einbezogen sind. Es ist folgerichtig wenn die Kinder in verschiedenen Sprachen das Gedicht Für Samay, das Böll 1966 für seine Enkelin geschrieben hat, rezitieren. Aber manchmal erscheint ein komplexer oder schwermütiger Text aus dem Mund eines Achtjährigen auch fehl am Platz. Nichtsdestotrotz ist die Teilnahme der Kinder eine tragende Idee des Stücks.
Ein weiterer Strang dieses dokumentarischen Musiktheaters ist das Gedicht Engel (1965) mit den drei Engeln, die den Text singen. „Engel, wenn Du ihn suchst er ist Erde.“ Es sind drei Sängerinnen der Oper Köln: Emely Heinrichs, Sopran, Adriana Bastidas-Gamboa, Mezzosopran und Dalia Schaechter, Mezzosopran.
Ein Bilderbogen aus Poesie, Musik und Doku, oft in dunklen Farben, aus dem Leben Heinrich Bölls, der es schafft dem Publikum den Menschen Böll näherzubringen. Helmut Oehring ist die Hommage an Böll gelungen. Die Musik, die Sängerinnen, die Performance, die Kinder und die ausgewählten Texte lassen den Menschen Heinrich Böll durchscheinen. Das Publikum erlebt Facetten aus Bölls Leben, die zum Nachdenken über Freiheit, Kunst und vieles mehr anregen.